Mädchenwohnheim der Ravensberger Spinnerei | IBZ

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In dem 1870 erbauten Kost- und Logierhaus für unverheiratete Spinnerinnen an der Ecke Teutoburger- und Webereistraße wohnten zeitweise bis zu 200 auswärtige Mädchen – erst aus Ostpreußen und Böhmen, in der Nachkriegszeit vor allem aus Österreich, Italien, Griechenland, Spanien und der Türkei. Heute befindet sich in dem Gebäude u.a. das IBZ.

Das Mädchenwohnheim 1937; Fotograf: Josef Hoppe; Foto: Stadtarchiv Bielefeld Close

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Die monotone und ungesunde Arbeit in der Ravensberger Spinnerei, die langen Arbeitszeiten und der im Vergleich zu anderen Branchen wie Maschinenbau oder Näherei deutlich niedrigere Lohn waren für die ländlich-heimgewerbliche Bevölkerung nicht sonderlich attraktiv. Schon in den Anfangsjahren wurden Fachkräfte aus Schlesien geholt. 1865 und 1869 lag ein Gutteil der Spindeln wegen Arbeitskräftemangels still. Daher ging die Betriebsleitung verstärkt dazu über, Arbeitskräfte aus Ostpreußen und Böhmen, nach dem Ersten Weltkrieg auch aus dem Ruhrgebiet anzuwerben.

Unterkünfte für die Belegschaft der Ravensberger Spinnerei

Bereits 1856 waren Wohnhäuser für Arbeiterfamilien an der Webereistraße, kurze Zeit später weitere an der Spinnereistraße gebaut worden. Auch an der Hermann-Delius-Straße, der Bleichstraße und der Heeper Straße wurden Wohnhäuser errichtet. So entstanden bis 1909 insgesamt 74 zwei- bis dreigeschossige Häuser mit 200 Arbeiter- und Beamtenwohnungen „mit Stallraum und einem Scheffelsaat Land“. Vermietet wurden die Wohnungen unter der Bedingung, dass möglichst alle Familienmitglieder in der Spinnerei arbeiteten. Eine Kündigung hatte die Ausweisung aus der günstigen Werkswohnung zur Folge.

Erste Arbeiterwohnungen der Spinnerei, erbaut 1857 an der Webereistraße; Foto: Westf. Amt für Denkmalpflege, Münster

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Spinnereiviertel

Zwischen Bleichstraße und Ravensberger Straße entwickelte sich so ein ganzer Stadtteil, in dem vor allem Textilarbeiter wohnten: das „Spinnereiviertel“. Nach dem Bau der Mechanischen Weberei und der Einrichtung der Anschlussbetriebe der Metallindustrie verdankte sich die Entstehung des gesamten Stadtteils „Bielefelder Osten“ sowie der Anstieg der Bielefelder Bevölkerung von 10.000 um 1850 auf 30.000 um 1880 direkt oder indirekt der Textilindustrie.

Kost- und Logierhaus für unverheiratete Spinnerinnen

Für die jungen, noch minderjährigen Frauen, die ohne Familie kamen, baute die Ravensberger Spinnerei AG ein Kost- und Logierhaus. 1870 berichtete der Verwaltungsrat an die Aktionärsversammlung: „Der von uns beschlossene Bau eines Kost- und Logirhauses für Mädchen, welches wir als für eine größere Familie unter einem Hausvater einzurichten gedenken, wird uns in den Stand setzen, Mädchen aus der weiteren Umgebung anzunehmen und unterzubringen, ohne sie der Gefahren einer familienlosen Existenz auszusetzen.“

So entstand in unmittelbarer Nähe der Spinnerei ein ca. 60 Meter langer Backsteinbau im Rundbogenstil. Dieser Gebäudetyp – eine abgeschlossene Unterkunft mit Versorgung für unverheiratete Frauen – war für die damalige Zeit in Preußen ein Novum.

Mädchenwohnheim an der Sadowastr. 9, heute Teutoburger Str. 106; links daneben die Kinderbewahranstalt; Fotograf: Josef Hoppe 1937; Foto: Stadtarchiv Bielefeld

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Im Logierhaus gab es an der Webereistraße eine Küche, einen Speisesaal und einen „Markenconsum“ für die Spinnerinnen. Die Schlafsäle befanden sich an der Ostflanke des Gebäudes. Anfangs schliefen bis zu 16 Arbeiterinnen in je 40m² großen Schlafsälen, so dass insgesamt etwa 200 Mädchen untergebracht werden konnten. Später wurden die Räume in Zwei- und Dreibettzimmern unterteilt; nun wohnten etwa 70 Mädchen im Logierhaus. Im Innenhof stand ein Waschhaus mit Duschen. Bis 1925 gab es im Hof auch einen Schweine- und Hühnerstall. 1927 wurde das Wohnheim durch einen Neubau um 70 Betten vergößert.

Kost und Logis hieß: zwei Mahlzeiten am Tag und Malzkaffee („Muckefuck“) zum Frühstück. Das Logiergeld wurde direkt vom Lohn abgezogen. So blieb den jungen Mädchen von ihrer Arbeit nur noch ein Taschengeld. Die Heimordnung war preußisch rigide, aber nicht untypisch für die damalige Zeit. Gefordert wurden äußerste Sauberkeit und Disziplin. Für „Vergehen“ wie Zuspätkommen, Auf-dem-Bett-sitzen oder unordentliches Bett gab es Strafen. Die Ausgehzeiten waren mit „einmal wöchentlich“ sehr knapp bemessen, dafür fanden mehrmals in der Woche obligatorische Bet-Abende statt. Auch waren für Beschäftigte der Ravensberger Spinnerei 2/3 der Sitzplätze in der Pauluskirche reserviert.

Ausstellungstafel zum Mädchenwohnheim in der VHS und im Ausstellungskatalog „Leben und Arbeiten in der Fabrik“

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Die „Bramserin“

Das soziale Ansehen der Heimbewohnerinnen, oft abwertend „Spinnerlöttchen“ genannt, war niedrig. So berichtete das Berliner Tageblatt vom 8. Januar 1905: “In der Spinnerei werden vorwiegend weibliche Arbeiter beschäftigt, die meistens aus Ostpreußen und Böhmen stammen. Auch die einheimische Bielefelderin geht in die Fabrik, aber nicht in schmutzige Spinnereien, die sie stets den Fremden überlässt, sondern in die Webereien, wo die Löhne zwar etwas niedriger, wo aber auch die Arbeit dafür reinlicher ist. Man kann, zumal am Sonntag in den Tanzlokalen, sehr genau beobachten, welche gesellschaftliche Kluft zwischen Spinnerin und Weberin herrscht und mit welchem Standesdünkel die Weberin auf die Spinnerin, von ihr ‚Bramserin‘ genannt, herabsieht. Nie wird sich eine Weberin gefallen lassen, dass sich eine Spinnerin zu ihr an denselben Tisch setzt. Woran aber dieses unglückliche Geschöpf zugleich von der Weberin erkannt wird? An dem penetranten Leimgeruch, den ein ‚Bramser‘ ausströmt und der sich durch alle Wohlgerüche Arabiens nicht verdrängen lässt. Wie die Weberin über den ‚Bramser‘, so wieder – immer Hand in Hand mit dem aus seinem rauhen Urzustand in den Zustand der Veredelung übergehenden Flachsfaser – die Jungfrau aus den Wäschefabriken über die Weberin.“

Arbeiterinnen beim Nass-Spinnen in der Ravensberger Spinnerei, 1950er Jahre; Foto: Stadtarchiv Bielefeld

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Dennoch war für die jungen Mädchen das Wohnen im Mädchenwohnheim auch ein Schritt aus der oft nicht minder strengen Obhut der Eltern. Manch eine heiratete und blieb in Bielefeld. So erzählte eine ehemalige Bewohnerin: „Freunde, mit denen man sich traf, durften natürlich nicht ins Heim, auch nicht zum Abholen. Man musste sich vorher genau verabreden. Die Freunde der Mädchen, die im Altbau wohnten, gingen am Haus entlang und pfiffen laut, dann wussten die Mädchen Bescheid und gingen runter. Wer heiratete, zog aus, denn auch die Ehemänner hatten keinen Zutritt.“

Zimmer im Wohnheim nach dem Zweiten Weltkrieg; Ausstellungskatalog „Leben und Arbeiten in der Fabrik“

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In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Beschäftigte aus dem Ruhrgebiet angeworben, in den 1960er Jahren auch aus Österreich, Spanien, Jugoslawien, Griechenland und der Türkei. Der Anteil der angeworbenen „GastarbeiterInnen“ machte in den 1970er Jahren etwa 60% der Belegschaft der Ravensberger Spinnerei aus.

Internationales Begegnungszentrum IBZ Friedenshaus; Foto: Buchwald

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Heute befindet sich im ehemaligen Mädchenwohnheim das Internationale Begegnungszentrum IBZ Friedenshaus.

Lesetipps
  • Bernd Hey u.a. (Hg.): Geschichtsabläufe. Historische Spaziergänge durch Bielefeld, Bielefeld 1990, S. 142–145.
  • Dirk Ukena, Hans J. Röver (Hg.): Die Ravensberger Spinnerei – Von der Fabrik zur Volkshochschule, Bielefeld 1989.
  • Leben und Arbeiten in der Fabrik. Die Ravensberger Spinnerei von 1850 bis 1972, Ausstellungskatalog, Bielefeld 1986.

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