Leineweberbrunnen und Legge

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1909 schuf Hans Perathoner, Lehrer und Bildhauer an der staatlich-städtischen Handwerker- und Kunstgewerbeschule Bielefeld, als Auftragsarbeit einen Brunnen mit Leineweberskulptur. Modell für die drei Meter hohe Figur stand der ehemalige Leineweber Heinrich Heienbrok aus Niederjöllenbeck, der dafür drei Monate lang täglich von Jöllenbeck zu Fuß zur Sparrenburg wanderte. 1954 verschwand die Skulptur in der Versenkung. Doch die Bielefelder Bürgerschaft wollte ihren Leineweber wieder und so wurde das Denkmal 1960 mit einem neuen Sockel in der umgestalteten Parkanlage auf dem Altstädter Kirchplatz wieder aufgebaut.

Der Leineweber auf dem Altstädter Kirchplatz 2014; Foto: Buchwald

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Ein Denkmal für einen verschwundenen Beruf

Wenn Berufe verschwinden, bricht die Zeit der Nachrufe und Denkmäler an. Nicht anders war es mit den Leinewebern. Seit Jahrhunderten hatte ihre Arbeit maßgeblich zum Ruf Bielefelds als Leinenhandelszentrum im Ravensberger Land beigetragen. Doch der heimgewerbliche „Linnenhöpfer“ war längst Geschichte, als der Magistrat der Stadt Bielefeld 1908 anlässlich der 300-jährigen Zugehörigkeit der Grafschaft Ravensberg zu Brandenburg-Preußen auf die Idee verfiel, diesen Berufstand gebührend zu würdigen: „Zur Feier […] planen wir die Aufstellung eines Monumentalbrunnens, dessen Hauptfigur einen Ravensburgischen Leinenweber darstellen soll. Der Ravensburger Bauer, der das Gewebe des eigenen Betriebes in dem Holster hierher zur Legge und in den Handel brachte, ist vielleicht ein Jahrhundert hindurch eine typische Figur des von der brandenburgisch-preußischen Regierung hier so sehr geförderten und unterstützten Leinengewerbes gewesen. Dieser Leinenweber lebt nicht mehr, ihn aber im Bilde zu erhalten, ist ein vielfach geäußerter Wunsch, zu dessen Erfüllung die Ravensburgfeier einen willkommenen und historisch gerechtfertigten Anlaß bietet.“

Die Legge

Auf dem Altstädter Kirchplatz, unweit vom Standort der einstigen Legge, sollte der Brunnen stehen. Die Leinenlegge – eine in Bielefeld 1652 eingeführte Prüfinstanz für die Qualität des Leinens – hatte von 1833 bis 1872 ihren Sitz in den Räumen des ehemaligen Gymnasiums nordöstlich der Altstädter Nicolai-Kirche. Hier wurde gegen Gebühr die zum Verkauf in die Stadt gebrachte Leinwand den Leggemeistern auf langen Tischen zur Prüfung vorgelegt, die Qualität des Leinens begutachtet, die Breite der Bahnen vermessen und mit dem Leggestempel beglaubigt. Ohne dieses Gütesiegel durfte Leinwand nicht in den Handel gebracht werden. Sonst drohte „namhafte Straffe und Confiscation“ (Verfügung von König Friedrich Wilhelm I. von Preußen, 1717). An den Prüf- und Sammelstellen der Leinenleggen entstanden zeitweilig regelrechte Warenbörsen, weshalb die Legge bis 1833 auch passenderweise im Rathaus am Alten Markt prüfte. Nach dem Umzug an den Altstädter Kirchplatz lag sie unweit des Buttermarkts. Die Mechanisierung der Leinenherstellung im Zuge der Industrialisierung machte die Institution der Legge schließlich obsolet.

Stempel der Bielefelder Legge mit den Initialen von König Friedrich Wilhelm I.; Stadtarchiv Bielefeld

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Doch noch 1929 erinnerte Martha Modersohn-Kramme an den Gang der Leineweber zu den Leinenhändlern und zur Legge: „Die Obern- und ein Teil der Niedernstraße wurden fast ausschließlich von Leinenhändlern bewohnt, um 1830 zählte man 35 Handelshäuser dieser Art. Ein Bündel Flachs oder Garn, ein graues Stück Leinen auf der Fensterbank des kleinen Kontorraumes, der meist nach der Straße hin lag, zeigte das Gewerbe des Hausbewohners an. Kein Firmenschild verriet seinen Namen. Doch die Leineweber kannten ihren Kundenkreis, denn schon durch Generationen hindurch lieferten sie immer wieder an die bestimmte Familie ihre Erzeugnisse ab. / Hatte aber der Leggemeister ein Stück Leinen seines nicht ausreichenden Maßes wegen stempellos gelassen, oder es gar zerschnitten, dann war guter Rat teuer.“

Perathoners Brunnenplanung

Die Gestaltung des Brunnens übernahm der in Südtirol geborene Künstler Hans Perathoner (1872–1946), seit April 1907 Lehrer und Bildhauer an der staatlich-städtischen Handwerkerschule und laut Westfälischem Kunstblatt der beste zu der Zeit in Bielefeld ansässige Bildhauer.

Hans Perathoner (1872–1946); Foto: Stadtarchiv Bielefeld

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Perathoner plante eine Gesamthöhe des Brunnens von sieben Metern mit einem Steinsockel von vier Metern und vier Steinfiguren, die den Leineweber gleichsam trugen. Am Wasserbassin entwarf er links und rechts zwei Skulpturen sitzender Kinder „mit Leineweber Zeichen, etwa Garn Schiff oder Spule“. Aus Kostengründen musste der Künstler jedoch einige Abstriche am ursprünglichen Modell machen. Im großen Saal der Sparrenburg durfte Perathoner sein Atelier für die Gestaltung des Brunnens einrichten. Für Ofen und Beleuchtung musste der Künstler jedoch selbst bezahlen. Der Brunnen wurde aus den Ersparnissen des städtischen Denkmalausschusses sowie durch Spenden „aus den Kreisen der Leinenindustrie” finanziert, insbesondere durch das Unternehmen A.W. Kisker, das damit auch das Recht erwarb, die Abbildung der Leineweber-Figur als Schutzmarke für seine Fabrikate zu nutzen.

Jobst Heinrich Heienbrok

Rund ein Dutzend Männer sollen sich auf der Deele eines Fachwerkhauses in Jöllenbeck als Modell für den Leineweber vorgestellt haben. Perathoners Wahl fiel auf Jobst Heinrich Heienbrok aus Niederjöllenbeck, Weber für den Leinenfabrikanten Albert Hermann Brünger, da in jenem „der westfälische Typus am schärfsten ausgeprägt erschien. Es ist dies ein früherer Leineweber, der noch selbst seine selbstgefertigte Leinewand in dem Holsten nach Bielefeld hereingebracht hat.“ (Westfälische Zeitung vom 17. Juli 1909)

Der Jöllenbecker Weber Jobst Heinrich Heienbrok; Stadtarchiv Bielefeld

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Zu Fuß wanderte Heienbrok nun drei Monate lang von Niederjöllenbeck bis auf die Sparrenburg, um dem Künstler Modell zu sitzen. Obwohl der Weber in seiner Jugend sicher viele Kilometer auf dem Weg von Jöllenbeck zur Legge am Altstädter Kirchplatz zurückgelegt hatte, entsprachen Waden und Oberschenkel des mittlerweile 64-jährigen Heienbrok nicht ganz Perathoners Vorstellung vom Körperbau eines Leinewebers. Es war vor allem Heienbroks Charakterkopf, der es dem Künstler angetan hatte. Ein Modell für die sportlichen Beine fand Perathoner schließlich in dem jungen Torwart des VfB, Harry Breitsohl. Nun durften beide dem Künstler Modell stehen.

Perathoners Atelier im großen Saal der Sparrenburg 1908: in der Mitte sitzend Heienbrok; Perathoner auf der Leiter; rechts stehend Breitsohl in der Tracht des Leinewebers; Foto: Stadtarchiv Bielefeld

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Nicht nur die Waden, auch der Bart des Leinwebers lieferte Stoff für Debatten. Obwohl ein Foto von Heienbrok diesen mit Bart zeigt, fanden konservativere Bielefelder 1909 den Bart der Leineweberskulptur politisch bedenklich: Ein typischer „Demokratenbart“ der 1848er-Revolution sei dies, wohingegen Leineweber nie einen solchen Bart getragen hätten. So schrieb Hugo Niemann 1909 in den Ravensberger Blättern, die Leinenverkäufer seien noch in den 1840er Jahren „mit glattrasiertem Antlitz“ in die Stadt gekommen.

Heienbrok (rechts) an einer Mühle in Jöllenbeck; Foto: Neue Westfälische vom 27.8.2013

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Einweihung des Brunnens

Am 16. Juli 1909 wurde das Leineweber-Denkmal im Beisein des Künstlers, des Bielefelder Magistrats sowie zahlreicher Bürger feierlich enthüllt: „Eine hundertköpfige Menge drängte sich in den Straßen, um den ersten Blick auf das Denkmal werfen zu können. […] Der Eindruck, den das Standbild auf die Festteilnehmer machte, war ein allseitig befriedigender und man äußerte sich durchweg lobend über das Werk des Künstlers“. Oberbürgermeister Gerhard Bunnemann betonte, das Denkmal zeige „einen Mann des Volkes, einen einfachen Ravensberger Leineweber, der aber durch seine Arbeitsamkeit und seine Königstreue hervorragend an der Entwicklung unserer Stadt und unserer Grafschaft beteiligt ist“. (Westfälische Zeitung vom 17. Juli 1909).

Der Leineweberbrunnen nördlich der Altstädter Kirche 1910; Foto: Stadtarchiv Bielefeld

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Beliebt bis heute

Der Leineweber-Brunnen erfreute sich bei den Bürgern Bielefelds großer Beliebtheit. Als beim Luftangriff am 30. September 1944 die Altstädter Nicolai-Kirche erheblich zerstört wurde, kam der Leineweber glimpflich davon, fristete sein Dasein aber zehn Jahre lang auf einem zusehends verwahrlosenden Platz. Für den Ausbau einer Straße verschwand er 1954 im städtischen Bauhof. Doch die Bielefelder Bürgerschaft wollte ihren Leineweber wieder und nach einigen Debatten wurde die Skulptur am 20. Dezember 1960 auf neuem Sockel und Brunnen – beide vom Bielefelder Architekten Wilhelm Heiner – in der neugestalteten Parkanlage auf dem Altstädter Kirchplatz erneut eingeweiht. Der Brunnen steht nun allerdings östlich, d.h. hinter der Altstädter Nicolai-Kirche.

Doch ob die Originalskulptur nun hinter oder neben der Nicolai-Kirche steht, spielt für die öffentliche Wahrnehmung kaum mehr eine Rolle. Denn der Leineweber ist in Bielefeld als beliebtes und oft genutztes Bildzitat nahezu allgegenwärtig.

Cover der Leinart-Zeitung im Leineweber-Jubiläumsjahr 2009; Foto: Leinart

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Wer selbst einmal auf den Spuren von Jobst Heinrich Heienbrok von Jöllenbeck nach Bielefeld zum Leineweberbrunnen wandern möchte, findet auf der Website des Heimatvereins Jöllenbeck die 13,6 km lange Route des Leineweberwegs.

Lesetipps
  • Bernd Hey u.a. (Hg.): Geschichtsabläufe. Historische Spaziergänge durch Bielefeld, Bielefeld 1990, S. 33–35.
  • Jürgen May: „Hans Perathoner und das Leineweberdenkmal in Bielefeld – Ein Grödner Künstler im Ravensburger Land“, Online.
  • Bernd J. Wagner: „16. Juli 1909: Der Leineweberbrunnen wird eingeweiht“, in: Historischer RückKlick.

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